Mechthild
Bereswill
Ins Abseits geraten – Ausgrenzungserfahrungen in der Familie als biografischer
Dauerkonflikt. Hermeneutische Annäherungen an die
Selbstdeutungen eines Jugendlichen
Der Konstitutionsprozess biografischer Identität unterliegt einem konflikthaften Wechselspiel zwischen intersubjektiver Anerkennung und subjektiver Selbstbehauptung, was seine psychodynamischen Dimensionen betrifft. Trifft diese subjektive Entwicklungsdynamik auf wechselseitig sich verstärkende Sozialisationszumutungen, in deren Zentrum die Dynamik unübersichtlicher, teilweise institutionalisierter Aus- und Eingrenzungsmechanismen stehen, wird die notwendige und konstruktive Spannung zwischen Autonomie und Bindung nicht bewältigt, sondern abgewehrt. Unter diesem Blickwinkel wird der biografische Selbstentwurf eines Jugendlichen im Gefängnis interpretiert, für den die frühe Ausgrenzung aus der eigenen Herkunftsfamilie zum inneren Anlass für einen dauerhaften Kampf um Anerkennung wird. Im Zentrum des jugendlichen Selbstentwurfs stehen überzogene Selbstbehauptungsstrategien. Sie zielen auf die vorenthaltene (familiäre) Anerkennung, ziehen aber zumeist soziale Kontrolle und Sanktionierung nach sich. Wie der Wunsch nach familiärer Zugehörigkeit nicht aufgegeben, sondern über alle Ausgrenzungserfahrungen und Machtkämpfe hinweg weiterhin zentral für die biografische Selbstthematisierung des Jugendlichen bleibt, zeigt sich in der Längsschnittperspektive des Falls für die Zeit während und nach der Inhaftierung.
Kathrin
Audehm / Jörg Zirfas
Performative Gemeinschaften. Zur Bildung der Familie durch Rituale
Dieser Beitrag untersucht die Praktiken von performativen Prozessen, durch die Familien zu sozialen Gemeinschaften werden. Performative Prozesse werden hier als verbale und non-verbale ritualisierte Formen der Interaktion verstanden, die mehrere Aspekte haben: Sie lassen sich räumlich und zeitlich abgrenzen, vertreten einen normativen Anspruch, legen einen szenisch-mimetischen Nachvollzug nahe und in ihnen lässt sich die Gemeinschaft als Medium und Resultat dieses Prozesses beschreiben. Performative Prozesse werden auf einer „Familienbühne“ aufgeführt und gewährleisten so die Solidarität und Integration der Familie als Gemeinschaft. Die Familie als Gemeinschaft ist ein dramatisches Handlungsfeld, das sich durch Rituale als symbolische Inszenierungen konstituiert. In Ritualen wird evident, wie es der Familie gelingt, Interaktionen durchzuführen, die ihr zentrales Problem, nämlich den (dialektischen) Zusammenhang von Einheit und Differenz bearbeiten. Im Beitrag werden mit Hilfe ethnographischer Methoden zwei ritualisierte Sequenzen einer Familie im Hinblick auf deren performativen Stil analysiert: der ritualisierte Umzug von der Küche ins Wohnzimmer, an dem dann das Frühstück am Wochenende stattfindet, und ein spielerisches Quiz der Behebung eines Schadenfalls, der die Solidarität der Familie auf die Probe stellt.
Bruno
Hildenbrand
Generationenbeziehungen in struktural-hermeneutischer Perspektive
Während in den dominanten Strömungen der deutschen Familiensoziologie die Familie auf einen Zwei-bis-drei-Generationen-Zusammenhang verkürzt und die Beziehungen zwischen den Generationen vorwiegend auf Unterstützungsleistungen reduziert werden, ist die „Theorie der Zweiten Moderne“ auf bestem Wege, den Forschungsgegenstand Familie als historisch gewachsenen Ort triadisch strukturierter Sozialisationsleistungen generell zu beseitigen. Anhand eines Fallbeispiels wird dem gegenüber gezeigt, wie auf der Ebene der Herausbildung individueller Lebensabläufe familiale Strukturbildungsprozesse eine zentrale Rolle spielen, die bereits in früheren Generationen angelegt sind und die das Individuum einerseits bestimmen, von diesem andererseits gestaltet werden.
Jean-Claude
Kaufmann
Rolle und Identität: Begriffliche Klärungen am Beispiel der Paarbildung
Der Beitrag betrachtet die gegenwärtige Entwicklung der Verwendung des Begriffs „Identität“ und die Tatsache, das er in einer bestimmten Anzahl von Fällen zur Bezeichnung derselben Realität einen anderen Begriff ersetzt: den der Rolle. Der Autor zeigt auf, dass es aufschlussreich sein kann, beide getrennt zu untersuchen, um einen dynamischen Begriff des Prozesses der Identitätsbildung zu entwickeln, mit dem sich das Zusammenspiel von Individuum und Gesellschaft besser fassen lässt. Hierzu wird versucht, einen aktivere Form der Identitätsbildung zu definieren. Am empirischen Beispiel wie sich Paare bilden untersucht der Autor wie die Entwicklung der letzten dreißig Jahre zu einer immer geringeren Verwendung des Rollenbegriffs zur Bestimmung von Identität führte; kehrseitig verbunden mit der Wiederbelebung des Konzepts der inkorporierten Gewohnheiten.
Dirk
Tänzler
Das ungewohnte Medium. Hitler und Roosevelt im Film
Ausgehend von der These, dass die Medialisierung zu einer performativen Steigerung der Politikdarstellung führt, wird anhand zwei kontrastierender hermeneutisch-sequenzieller Einzelfallrekonstruktionen der Übergang von einer Verkörperung der Politik zur Selbstinszenierung des Politikers analysiert. Nicht die Degeneration des Politikers zum Schauspieler ist prekär, sondern die strukturelle Veränderung seines Verhältnisses zum Publikum. Einerseits vergrößert sich seine Handlungsfreiheit, andererseits sieht er sich durch die technische Reproduzierbarkeit und Aufhebung von Distanz zu einer gesteigerten Prüfung der Konsistenz seiner Selbstdarstellung, also zu mehr Selbst-, vor allem Körperkontrolle gezwungen. An Filmaufnahmen von Hitlers Rede an das deutsche Volk vom 30. Januar 1933 und von Franklin D. Roosevelts erster Antrittsrede als amerikanischer Präsident vom 4. März 1933 lässt sich zeigen, wie zu Beginn dieses Prozesses der nun entbrannte Kampf um Inszenierungsdominanz vom Diktator eindeutig für sich entschieden werden konnte, während Präsident und Medium in der Demokratie aneinander vorbei inszenierten. Grundsätzlich gilt aber, dass sich beide Politiker einem ungewohnten Medium gegenüber sahen; die Habitualisierung eines medialen Repräsentationstypus hat noch nicht stattgefunden.
Erhard
Stölting
Projektive Faszination und die soziale Konstruktion von Individualität
Die Grenzen einer utilitaristischen Begriffsbildung zeigen sich vor allem an jenen sozialen Phänomenen, die sich explizit dem Modell einer rationalen und willentlich gesteuerten Orientierung widersetzen. Dazu gehört die Faszination. Das Grundprinzip der Faszination besteht in der identifikatorischen Konstruktion einer gesichtslosen, maskierten und deshalb geheimnisvollen Macht. Damit gerät die Faszination nicht nur in Gegensatz zu einer rationalistischen Orientierung, sondern auch zu einer charismatisch-individua-lisierten Konzeption von Würde. Es ist gerade die Entindividualisierung in ihrer Gesichtslosigkeit, die den Mechanismus der Faszination auszeichnet. Als Gegenpol zu dem individualistisch gesteigerten Modell der Würde ist sie wie diese als „unmoderner“ Bestandteil der Moderne zu charakterisieren.
Günter
Mey
Erzählungen in qualitativen Interviews: Konzepte, Probleme, soziale
Konstruktion
Im Zentrum des Beitrags steht eine vergleichende Betrachtung des narrativen Interviews sensu Fritz Schütze mit dem problemzentrierten Interview nach Andreas Witzel. Dabei werden vor allem erzähl- und kommunikationstheoretische Positionen einander gegenüber gestellt und die unterschiedlichen Konzeptualisierungen besprochen, die beide Autoren für die Interaktion zwischen Forschenden und Beforschten vornehmen. Ziel meines Vorgehens ist es, die kommunikative Ko-Konstruktion im sozialen Setting Interview zu beleuchten und zu verdeutlichen, wie sich diese in der Produktion von Textsorten niederschlagen kann.
Iris
Nentwig-Gesemann
Krippenpädagogik in der DDR zwischen normativer Programmatik und
erzieherischer Handlungspraxis
Ein adäquates Verständnis der institutionellen Erziehungsprozesse in der DDR ist darauf angewiesen, systematisch zwischen den normativen Vorgaben der Erziehungsprogrammatik einerseits, und der Erziehungspraxis andererseits zu unterscheiden. In einer Dokumentenanalyse kann gezeigt werden, dass die Programmatik der Krippenerziehung einer kollektivistisch-zwangsmoralischen Erziehungsauffassung folgt. Dem stehen die Ergebnisse der Interpretation von Gruppendiskussionen von Erzieherinnen gegenüber. Auf der Ebene des Habitus der Erzieherinnen zeigt sich hier ein sehr differenziertes Bild. Die Spannbreite reicht von ausgeprägten Reprodukten der programmatischen Vorgaben bis zu Erziehungsorientierungen, die einen deutlichen Kontrast zum Erziehungsprogramm markieren. Auf der Folie dieser Forschungsergebnisse erscheint die öffentliche Debatte über die institutionelle Erziehung in der DDR als undifferenziert und polarisiert.