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ISSN 1439-9326

Heft 1-2001

Deutungsmuster und Begriffsentwicklung

Ulrich Oevermann
Zur Analyse der Struktur von sozialen Deutungsmustern

Dieser Artikel stellte 1973 ein Konzept vor, das soziale Deutungsmuster als handlungsstrukturierende, tradierte, intersubjektiv geltende Weltdeutungen auffasst, die spezifische Strukturmerkmale aufweisen: sie verfügen über eine je eigene Logik, je eigene Kriterien der Vernünftigkeit und Geltung; sie haben generativen Status, d.h. strukturieren das Handeln in wechselnden sozialen Situationen; sie sind historisch wandelbar; sie sind funktional auf eine Systematik von Handlungsproblemen oder Strukturbedingungen bezogen, gehen jedoch darin nicht auf, sondern verfügen über eine relative Eigenständigkeit. Obwohl unveröffentlicht entfaltete der Artikel eine damals nicht erwartbare Wirkung und initiierte den seitdem so genannten Deutungsmuster-Ansatz. Er wird um einen im Anschluss abgedruckten Aufsatz des Autors („Die Struktur sozialer Deutungsmuster – Versuch einer Aktualisierung“) ergänzt.

Ulrich Oevermann
Die Struktur sozialer Deutungsmuster – Versuch einer Aktualisierung

Dieser Artikel bezieht sich auf das vorstehend abgedruckte Papier „Zur Analyse der Struktur von sozialen Deutungsmustern“ vom gleichen Autor. Die darin vorgetragenen Überlegungen erfahren hier eine historische Kontextuierung und eine Reformulierung im Lichte neuerer Erkenntnisse. Soziale Deutungsmuster können jetzt verstanden werden als vergemeinschaftete Weisen der Problembewältigung, als Deutungen von Handlungsproblemen, die von einer Gemeinschaft als gültige Überzeugung angenommen wurden. Der Deutungsmusterbegriff wird insbesondere in Abgrenzung zu anderen Wissens-und Bewusstseinsformationen wie Meinungen, Einstellungen, Ideologien und Habitus präzisiert. Die methodischen Implikationen der Deutungsmusteranalyse werden im Lichte der vom Autor entwickelten „Objektiven Hermeneutik“ ausbuchstabiert. Einige zentrale empirische Anwendungsfelder werden skizziert.

Thomas Bernhard Seiler
Strukturgenetische Begriffsforschung am Beispiel des Arbeitsbegriffs

Der Beitrag verortet in seinem ersten theoretischen Teil die strukturgenetische Begriffsforschung vor dem Hintergrund der  psychologischen Begriffsforschung. Nach einigen Thesen zur Beziehung und zur gegenseitigen Abhängigkeit von ‚Begriff‘, ‚Wort‘ und ‚Bedeutung‘ werden Begriffe und ihre Entwicklung aus strukturgenetisch konstruktivistischer Sicht analysiert und mit anderen Auffassungen konfrontiert. Begriffen werden die Eigenschaften kognitiver Strukturen und der Status idiosynkratischer Alltagstheorien zugewiesen. Neben ihrer kognitiven Entität, wird auch ihre motivationale und emotionale Natur betont. Der zweite Teil wendet sich der empirischen Begriffsforschung aus strukturgenetischer Sicht zu. Nach eher beiläufig erwähnten, andern Zielsetzungen dieser Forschungsrichtung wird eine inhaltsbezogene Schwerpunktsetzung begründet. Die methodischen Möglichkeiten und Grenzen dieser Forschung, die in besonderer Weise auf einen sprachlichen Zugang angewiesen ist, werden ausgelotet. Beispielhaft werden die aufgestellten Thesen und Gesichtspunkte durch Untersuchungen, Analysen und Befunde zur idiosynkratischen Konstruktion des Arbeitsbegriffs belegt.

Neuere Entwicklungen in der Ethnographie

Hubert Knoblauch
Fokussierte Ethnographie

Der Beitrag möchte eine Bewegung innerhalb der gegenwärtigen soziologischen Ethnographie skizzieren, die in einer großen Zahl von Arbeiten auftritt. Dabei handelt es sich um relativ kurzfristige Ethnographien, die häufig unter Zuhilfenahme audiovisueller Aufzeichnungsmethoden besondere Aspekte der Aktivitäten in einer Gruppe oder in sozialen Situationen untersuchen. Obwohl die Zahl dieser Untersuchungen zunimmt, hat eine methodologische Auseinandersetzung mit ihrer Vorgehensweise bislang noch kaum stattgefunden. Dieses Problem betrifft insbesondere die Soziologie, da sich die fokussierte Ethnographie zu guten Teilen mit soziologischen Fragen beschäftigt. Zunächst sollen hier verschiedene ethnographische Untersuchungsansätze dargestellt werden, die sich durch die Merkmale auszeichnen, die hier unter dem Begriff der fokussierten Ethnographie zusammengefasst werden. Fokussierte Ethnographie beschreibt eine ethnographische Praxis, der diese Arbeiten folgen, die aber methodologisch bislang noch kaum reflektiert wurde. Deswegen werden in einem weiteren Teil dann die Grundzüge der fokussierten Ethnographie skizziert, bevor auf die methodologischen Aspekte dieses Ansatzes hingewiesen wird. Abschließend soll dann die Bedeutung dieses Ansatzes für die Soziologie umrissen werden.

Bernt Schnettler
Vision und Performanz. Zur soziolinguistischen Gattungsanalyse fokussierter ethnographischer Daten

Der Einsatz audiovisueller Aufzeichnungstechniken verändert die Praxis ethnographischer Forschung: Fokussierte Feldaufenthalte erlauben die extensive Generierung von medialen Daten. Sozialwissenschaftliche Methoden zur Analyse von Videodaten befinden sich allerdings noch weitgehend im Stadium der Experimentation. Der Beitrag zeigt auf, welche Vorzüge und Grenzen die soziolinguistische Gattungsanalyse bei einer Anwendung auf Videodaten bietet. Dies wird anhand einer Fallanalyse exemplarisch demonstriert. Deren Grundlage ist die Aufzeichnung einer „Volltrancevision“ der Leiterin der Neureligiösen Gemeinschaft Fiat Lux, Uriella. Ziel der Analyse ist die Rekonstruktion der Konstruktion dieser religiöser Transzendenzerfahrungen aus der Perspektive der Anhängerschaft selbst. Dabei werden drei Ebenen unterschieden: Auf der Binnenebene werden die textuellen, gestischen, mimischen und prosodischen Aspekte der visionären Performance untersucht; auf der intermediären Ebene Setting und Dekorum; schließlich auf der Ebene der äußeren Kontextes die soziale Einbettung der transzendenten Kommunikationsform sowie deren Präsentation im Medium des Films. Abschließend wird die Notwendigkeit der Verknüpfung von hermeneutischer Fallanalyse am Material einerseits mit ethnographischen Beobachtungen zu deren kontextualisierenden Fundierung andererseits diskutiert.

Methodenwerkstatt

Ingo Wienke
Das Luftbild als Datum soziologischer Analyse. Eine objektivhermeneutische Textinterpretation als Beitrag zur Rekonstruktion von Strukturen sozialer Räume

Ziel des Aufsatzes ist es die Fruchtbarkeit der Analyse von Luftbildern für die Soziologie zu erweisen. Für diesen Zweck wurde eine Aufnahme, die die osthessische Stadt Bebra zeigt, ausgewählt und exemplarisch einer objektiv-hermeneutischen Interpretation unterzogen. – Auch bei einer Bildanalyse gilt es, das Initialsegment unter der für die objektive Hermeneutik konstitutiven Prämisse künstlicher Naivität zu behandeln. Im Verlauf der Interpretation lassen sich Hypothesen u.a. über die vierphasige Entwicklungsgeschichte der Stadt und über Milieus in Bebra entwickeln. – Die vertikale Aufsicht durch ein Luftbild erscheint nach dieser Analyse als geeigneter Ausgangspunkt für die Untersuchung einer Stadt, da es als von anderem Material unabhängiges Datum die Entwicklung scharf konturierter Hypothesen erlaubt, deren Überprüfung an Daten anderen Typs zu einer aufschlussreichen Strukturerkenntnis führt.

Zeitzeichen

Christoph Maeder
Der moralische Kreuzzug des „New Public Management“ in der Schweiz

Am Beispiel der Verbreitung des New Public Managements (NPN) in der Schweiz wird dargestellt, wie sich mit dem Transfer von erwerbswirtschaftlichem Betriebsführungswissen in die staatliche Verwaltung hinein, eine moralische Unternehmung formiert. Lokale Verwaltungstraditionen werden durch kontextfremdes und hochgradig normatives Wissen delegitimiert und für die managerielle Transformation im Rahmen von Globalisierungsprozessen vorbereitet. Es wird dabei sichtbar, dass – trotz wissenschaftlicher Formatierung des Kreuzzugs – weniger die theoretische Stringenz, die konzeptionelle Klarheit oder gar eine empirische Evidenz zählen. Solche Programme lassen sich besser durch eine heilsverheißende Semantik beschreiben und verstehen. Sie stellen eine Form der sozialen Konstruktion von abweichendem Verhalten durch die negative Etikettierung traditioneller bürokratischer Herrschaft dar.