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ISSN 1439-9326

Heft 1-2004

Region

Karl Friedrich Bohler
Region und Mentalität. Welche Rolle spielen sie für die gesellschaftliche Entwicklung?

Region und Mentalität weisen auf die Einbettungsverhältnisse sozialen Handelns hin. Der Begriff der Region spielt zuerst auf die naturräumlichen Voraussetzungen an. Beide, aber v. a. das Konzept der Mentalität, beziehen sich auf die sozialkulturellen und ‑zeit­li­chen Dimensionen gesellschaftlicher Entwicklung. Historisch lassen sich in Deutschland mindestens drei Typen von Agrarregionen – im engeren Sinn bäuerliche Gebiete, Realteilungs- und Güterprovinzen – und der Typus der Gewerbelandschaft unterscheiden. Da Realteilungs- und Gewerbelandschaften von einer ähnlichen strukturellen Problematik gekennzeichnet sind, lassen sich den Regionaltypen drei Mentalitätstypen zuordnen. Sie gründen in den Erfahrungen eines Strukturmusters lebenspraktischer Sorge, das sich auf die sozialen Probleme der Stellenfalle in bäuerlichen Regionen, der Subsistenzfalle in Realteilungs- und Gewerbelandschaften sowie der Autonomiefalle in Gutsbezirken bezieht. Aus dem jeweiligen regionalen Potenzial und einer spezifischen Mentalität folgen im weiteren Modernisierungsprozess typische Entwicklungen und Karrierewege. Regionale und mentale Eigenheiten können in verschiedenen Phasen der Entwicklung unterschiedliche Folgen haben.

Jürgen Pohl
Regionale Kultur und regionale Wirtschaftsstruktur
Die Funktion von Normen und Institutionen in "Industrial districts"

Regionalspezifische Geofaktoren führen zur Ausbildung regionaler, spezialisierter Wirtschaftsformationen. Auch eine besondere regionale Mentalität und Kultur bildet sich dabei heraus bzw. wirkt als “vierter Produktionsfaktor” mit. Diese traditionellen Elemente werden in der aktuellen Debatte um die Funktion von Kultur, Institutionen und Milieus im Rahmen des “Industrial district”-Konzeptes zur Zeit reformuliert. An Beispielen aus der Modeschmuckindustrie wird verdeutlicht, welche Aufgabe solche regionalen Soziokulturen im Spannungsfeld zwischen regionaler Verankerung und globaler Entankerung spielen und wie sie sich verändern. Während der eine Distrikt nur noch als “verlängerte Werkbank” dient, zerfällt ein anderer unter dem Ansturm der Modernisierung. Es zeigt sich aber auch, dass durch eine geschickte Kombination aus lokaler und globaler Ebene komparative Vorteile durch eine Regionalkultur entstehen können. Mit der Globalisierung wird ihre Bedeutung erheblich modifiziert, verschwindet aber nicht.

Allgemeiner Teil

Vera King
Das Denkbare und das Ausgeschlossene. Potenziale und Grenzen von Bourdieus Konzeptionen der ‚Reflexivität‘ und des ‚Verstehens‘ aus der Perspektive hermeneutischer Sozialforschung

Bourdieus dynamisches wissenschaftstheoretisches Konzept von ‚Reflexivität‘ ist für hermeneutische Sozialforschung von großer Bedeutung, da es die soziologische Analyse der Bedingungen und vor allem auch der Hindernisse von Erkenntnis- und Verstehensprozessen akzentuiert und präzisiert. Auch stellt Bourdieu in diesem Zusammenhang die Konstruktion des Forschungsgegenstandes deutlicher als vielfach üblich in den Mittelpunkt der reflexiven Analyse. Allerdings zeigt sich, dass die Studie ‚Das Elend der Welt‘ für hermeneutische Sozialforschung gleichwohl kein Beispiel bieten kann. ‚Reflexivität‘ wird im ‚Verstehens‘-Konzept dieser Studie gleichsam in Handlung bzw. in fremdheitsreduzierende Maßnahmen aufgelöst, wodurch die Erkenntnispotenziale einer konsequent reflexiven soziologischen Interpretation verschenkt werden. Stattdessen ist durchgängig und systematisch eine reflexive hermeneutische Rekonstruktion sämtlicher Implikationen der Forschung vorzunehmen, insbesondere eine rekonstruktive Analyse der spezifischen Formen, in denen sich das Anliegen von Erforschten mit der Forschungssituation verknüpft und in denen sich eine Fallstruktur gerade als Fall in der Forschung konturiert. Das Fazit ist eine die Erkenntnispotenziale von Bourdieus Reflexivitätskonzept als auch die Kritik an seiner Verstehenspraxis zusammenführende konsequent reflexive Sozialforschung und soziologische Hermeneutik.

Michael Niehaus und Norbert Schröer
Geständnismotivierung in Beschuldigtenvernehmungen. Zur hermeneutischen und diskursanalytischen Rekonstruktion von Wissen

In unserem Forschungsprojekt beschäftigen wir uns mit der Frage, unter welchen Bedingungen ein Beschuldigter dazu motiviert werden kann, seine Tat im Prozess der Vernehmung zu gestehen. Um das Ineinandergreifen kultureller, rechtlicher und sozialer Beweggründe aufzuklären, wird das Problemfeld unter drei Aspekten erschlossen. Erstens wird das diskursive Umfeld untersucht, mit dem die Geständnispraxis verknüpft ist. Zweitens werden Vernehmungstranskripte einer Sequenzanalyse unterzogen, um über die allmählich herbeigeführten Motivationen zum Geständnis Aufschlüsse zu erhalten. Und drittens wird die Entwicklung der Geständnispraxis in einem historischen Längsschnitt seit Abschaffung der Folter untersucht. Zu diesem Zwecke werden zwei verschiedene methodologische Konzepte kombiniert: Hermeneutische Wissenssoziologie und historische Diskursanalyse. Es soll gezeigt werden, dass diese beiden Konzepte kompatibel sind und sich gegenseitig ergänzen können. Wir kommen zu dem Ergebnis, dass polizeiliche Vernehmungsbeamte für die Motivierung zum Geständnis auf einer strukturellen Ebene auf ein Erziehungsdispositiv zurückgreifen müssen, um eine Beziehung zwischen sich und dem Beschuldigten herstellen zu können.

Stefan Kutzner
Die Französische Revolution als fortschreitende Autonomisierung des Politischen. Zur Rekonstruktion der institutionellen Durchsetzung des Nationalstaates

In diesem Beitrag wird der Frage nachgegangen, worin die Transformationsbedeutsamkeit der Französischen Revolution besteht. Die vorherrschenden Auffassungen in der historischen Forschung verorten die wesentlich durch den Revolutionsprozess bewirkten Veränderungen im Bereich der politischen Kultur; vor allem entsteht eine öffentliche De­battenkultur. Gegen diese Interpretation wird eingewandt, dass der Transformationspro­zess im politischen Bereich weitreichender ist: durch den Wechsel der Legitimitätsgrundlage werden die Machtbefugnisse und der Gestaltungsspielraum des politischen Souveräns ausgeweitet. Die fortschreitende Autonomisierung der politischen Sphäre wird dargestellt anhand der parlamentarischen Debatten um die Konstituierung der Generalstände, welche schließlich zur Proklamation der Nationalversammlung im Juni 1789 führt.

Methodenwerkstatt

Hubert Knoblauch
Die Video-Interaktions-Analyse

Vor dem Hintergrund einer rasanten Zunahme des Videos als eines Datenerhebungs- und -analyseinstrumentes und der damit verbundenen Visualisierung der sozialwissenschaftlichen Forschung stellt der Beitrag eine vorläufige Typologie visueller Datensorten vor und skizziert eine besondere methodische Vorgehensweise zur qualitativen, interpretativen Analyse von Videodaten: Die Video-Interaktions-Analyse (VIA). Als integrierter Teil einer fokussierten Ethnographie handelt es sich dabei um eine sich an Goffman und die Konversationsanalyse anschließende sequenzielle Vorgehensweise, die sich vorwiegend mit audiovisuellen Aufzeichnungen natürlicher Interaktionen beschäftigt. Die spezifischen Merkmale und methodische Grundzüge dieser Vorgehensweise werden hier bestimmt. Abschließend wird auch die besonderen Probleme einer solchen visuellen Analyse eingegangen und eine zweidimensionale diachrone und diachrone Analyse empfohlen, die etwa durch die Verbindung der beschriebenen Vorgehensweise mit hermeneutischen Verfahren geleistet werden könnte.

Zeitzeichen

Kai-Olaf Maiwald
Moratorium ohne Ende – und ohne Anfang?

Die Beobachtung einer Interaktion zwischen Abiturienten und Schülern gibt den Anlass zu Überlegungen zu einem gegenwärtigen Strukturwandel des psychosozialen Moratoriums. Zunächst werden strukturelle Aspekte des Erwachsenwerdens in der Moderne und das Phänomen einer sukzessiven Verlängerung des psychosozialen Moratoriums expliziert. Die Interpretation des Fallbeispiels führt zur Annahme einer weiteren Stufe des Enttraditionalisierungsprozesses: Das Studium gilt nicht mehr per se als Moratorium, sondern wird tendenziell als Teil des beginnenden Berufslebens aufgefasst.