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ISSN 1439-9326

Heft 2-2005

Künstlerische Erfahrung und begriffliche Erkenntnis

Ulrich Oevermann
Freuds Studie zum Moses des Michelangelo im Kontext biographischer Krisenkonstellationen. Untersuchungen zur Struktur ästhetischer Erfahrung und zur Methodik von Werkanalysen

Rekonstruktion der Freudschen Analyse des Michelangelo-Moses im Hinblick auf Freuds Bearbeitung seiner Situation als Gründer der Psychoanalyse mit Hilfe ästhetischer Erfahrung angesichts dieses Kunstwerks und der in ihm realisierten Bedeutungsstruktur der Moses-Erzählung sowie im Hinblick auf eine Methodik von Werkanalysen.

Dorett Funcke
Die unvollständige Triade: Eine strukturelle Herausforderung für das Gelingen einer autonomen Lebenspraxis. Das Beispiel Thomas Bernhard

Im Zentrum des Beitrages steht eine Fallrekonstruktion, deren analytischer Ertrag für die soziologische Sozialisationsforschung in theoretischer und methodischer Hinsicht dargestellt wird. Vom Fall Thomas Bernhard her, der sich dafür eignet, nach dem Korrespondenzverhältnis zwischen einer unvollständigen Entwicklungstriade und einem realisierten Lebenspraxismodell zu fragen, wird dafür plädiert, am theoretischen Baustein der Triade hat die Sozialisationsforschung nicht nur festzuhalten, sondern über diese Entwicklungsbedingung hinaus ihre Suche auf weitere, dem Subjekt vorgegebene und von ihm selbst erzeugte Strukturbedingungen zu richten. Vonnöten ist für diese auf Komplexität zielende Forschung ein methodisches Verfahren, dass eine strukturalistische mit einer phänomenologischen Analyseperspektive verbindet. So mündet die Fallanalyse in ein Plädoyer dafür, durch eine Methodenverbindung, die Sozialisationsforschung aus dem unfruchtbaren Gegensatz von Subjekt- vs. Strukturforschung herauszuführen.

Ferdinand Zehentreiter
Das Verhältnis von Werk und Künstlerbiographie als kulturwissenschaftliches Grundlagenproblem. Zu einer transformierten Musiksoziologie und ihrer Vorbereitung durch Th. W. Adorno

Ausgangspunkt des Aufsatzes ist die Diagnose eines Schlüsselproblems der biographischen Analyse des Künstlers: die Kunstproduktion muss darin als autonome Ausdrucksgestalt der biographischen Struktur einbezogen sein. Da dieser Gegenstand bislang weder für die Geistes- noch für die Sozialwissenschaften hinreichend fassbar ist, steckt in der Thematik der Künstlerbiographie für alle beteiligten Disziplinen grundlagentheoretischer Sprengstoff. Ein Blick auf die Musiksoziologie Theodor W. Adornos soll einen Ansatz freilegen, der eine Perspektive für die Lösung dieses Schlüsselproblems bietet. Diese führt in die Konstruktionsprobleme einer interpretativen Strukturtheorie als Kern einer allgemeinen Kulturwissenschaft.

Historische Strukturierung von Biographien

Peter Alheit
Zum Verhältnis von Biographie und kollektiven Orientierungen. Das Beispiel einer qualitativen Mentalitätsstudie in Ostdeutschland, Polen und Tschechien

Der Beitrag fasst die Ergebnisse einer umfangreichen qualitativen Vergleichsstudie zur Mentalitätslage in drei postsozialistischen Teilgesellschaften (Oberlausitz, Niederschlesien und Nordböhmen) zusammen. Das intergenerationale Befragungssetting (Großeltern- und Enkel-Generation jeweils einer Familie) legt für alle Teilgesellschaften drei charakteristische Konstellationen nahe: einen „Persistenz-Typus“ (erstaunliche Beharrungstendenz der Selbst- und Weltkonzepte zwischen Großeltern und Enkeln), einen „Modernisierungs-Typus“ (zumeist soziale und Bildungsaufstiege) und einen „Bruch-Typus“ (in der Regel soziale und Bildungsabstiege sowie Habitusbrüche). Während im deutschen Sample der „Persistenz-Typus“ überwiegt und auf eine erstaunliche „intergenerationale Modernisierungsresistenz“ deutet, zeigt das tschechische Sample einen Kontrastbefund: hier dominiert der „Modernisierungs-Typus“, der Beharrungs-Typus ist ohne Bedeutung. Im polnischen Sample ist dagegen der „Bruch-Typus“ überraschend deutlich repräsentiert – womöglich der Hinweis auf eine riskante Mentalitätslage, die zwischen aggressiver intergenerationaler Modernisierung und religiös grundierter Traditionalität hin und her schwankt. Datenbasis der Untersuchung sind mehr als 300 biographisch-narrative Interviews.

Gabriele Rosenthal
Biographie und Kollektivgeschichte. Zu den Reinterpretationen der Vergangenheit bei Familien von Deutschen aus der Sowjetunion

Der Beitrag beschäftigt sich mit den Fragen nach den möglichen Wirkungen der kollektiv- wie familiengeschichtlichen Vergangenheit auf die Gegenwart von Spätaussiedlern aus der ehemaligen Sowjetunion sowie nach den Wirkungen der jeweiligen Gegenwart und der jeweils antizipierten Zukunft in verschiedenen Lebensphasen auf die sich wandelnden Rekonstruktionen der Vergangenheit. Anhand von empirischen Beispielen wird das Phänomen diskutiert, dass trotz konsequent narrativer Gesprächsführung auffallend wenig über die Familiengeschichte erzählt wird und anscheinend auch nur wenig darüber erzählt werden kann; stattdessen werden kollektiv geteilte stereotype Darstellungen von bestimmten Elementen der Familienvergangenheit und teilweise eine kollektivgeschichtliche Vergangenheit präsentiert, die höchstwahrscheinlich weit vor die mündlich tradierte Vergangenheit von Angehörigen älterer Generationen zurückreicht. Die Erzählschwierigkeiten sind bedingt durch die wiederholten Umschreibungen der Vergangenheit sowie durch tabuierte Bestandteile der Vergangenheit und ein dadurch beschädigtes kommunikatives Gedächtnis.

Allgemeiner Teil

Tilman Allert
Vom Landesvater zum Bundesvater? Biografische Disposition und professionelles Profil in der Amtsführung des Bundespräsidenten Johannes Rau

Politik als Beruf bezieht sich auf ein Kompetenzprofil, das im politischen System handlungswirksam wird und zwar in der dynamischen Konstellation von Entscheidungen und deren legitimationsrelevanter Begründung. Politische Positionen im institutionalisierten Gefüge des „Interessenkampfs“ (Max Weber) lassen sich im Hinblick auf ihre relative Nähe zur operativen Ebene des politischen Handelns voneinander unterscheiden. Die Position des Bundespräsidenten bezeichnet im deutschen politischen System einer der operativen Ebene weitgehend entzogene Aufgabenstellung, die sich auf die Artikulation von gemeinschaftskonstitutiven Legitimationsgehalten beschränkt. Die exemplarische Analyse der politischen Biografie von Johannes Rau, die in einer ambivalenten Bezugnahme auf den Beruf des Journalisten und der anwaltlichen Idee der Streitbereitschaft den Eintritt in eine Reihe exekutiver Ämter ermöglicht und im Amt des Bundespräsidenten kulminiert, rekonstruiert zentrale Deutungsmuster, die den deutschen politischen Protestantismus bestimmt haben.

Rainer Paris
Raten und Beratschlagen

Der Aufsatz untersucht die Interaktions- und Beziehungsdynamik des Ratschlags. Dies geschieht in fünf Schritten: Der erste Teil bestimmt den „reinen Typus“ des Ratschlags in sechs zentralen Merkmalen (persönliche Adressiertheit, Asymmetrie, Problembezug, Aufrichtigkeit/Uneigennützigkeit, Verantwortungstransfer, Empathie/Flexibilisierung der Perspektiven) und grenzt ihn von benachbarten Handlungsmustern ab. Diese Vergleichsanalyse wird im zweiten Abschnitt durch die Diskussion verschiedener Varianten und Modulationen in diversen Macht- und Beziehungskonstellationen weitergeführt und ergänzt. Der dritte Teil behandelt die möglichen Aufnahmemotive und Reaktionspfade des Empfängers. Sodann wird im vierten Teil die Strukturanalyse des Ratschlags ansatzweise für die Untersuchung typischer Problemlagen in einigen Feldern professioneller Beratung (Schuldnerberatung, Organisationsberatung, Politikberatung) ausgewertet und fruchtbar gemacht. Abschließend wird der Gedankengang durch eine kontrastive analytische Skizze der Praxis des Beratschlagens als gleichsam konsensuelle Alternative zum Ratschlag noch einmal gebündelt und abgerundet.