Nicole Witte, Gabriele Rosenthal
Biographische Fallrekonstruktionen und Sequenzanalysen videographierter
Interaktionen. Zur Verknüpfung von Daten und Methoden
Der vorliegende Artikel stellt eine Verknüpfung von biographischen Fallrekonstruktionen mit Sequenzanalysen videographierter Interaktionen vor. Mit diesem Vorgehen intendieren wir eine konsequente methodische Umsetzung einer interaktionsanalytischen und figurationssoziologischen Perspektive in der Biographieforschung - im Sinne einer Verknüpfung von Interaktionsanalysen mit der Rekonstruktion der lebensgeschichtlichen Entstehung und Veränderung von Handlungsmustern in unterschiedlichen Lebensbereichen. Dazu werden zunächst methodologische Überlegungen zur Methodenverknüpfung dargestellt und ein daraus folgendes methodisches Design entworfen. Im zweiten Teil des Artikels wird ein Vorgehen zur sequenziellen Analyse von videographierten Interaktionen vorgestellt. Da die konkrete Umsetzung eines methodischen Vorgehens stets von der jeweiligen Forschungsfrage und vom spezifischen Untersuchungsfeld abhängig ist, wird der präsentierte Ansatz anhand eines empirischen Beispiels zur Arzt-Patient-Interaktion verdeutlicht.
Stefan Kurzke-Maasmeier
Hinter dem Bild. Skizzen einer ethisch informierten Bildhermeneutik und ihre
Bedeutung für die Betrachtung fremden Leids
Ausgehend von einer Fotografie aus dem berühmt gewordenen „Auschwitz-Album“ wird auf dem Wege kritisch-ikonografischer und ikonologischer Reflexion eine Bildtheorie skizziert und um einen Exkurs zum Bilderverbot und eine Analyse der nicht sichtbaren „moralischen Sinngehalte“ erweitert. Dazu wird der Blick „hinter das Bild“, also die Hinwendung auf seinen Bedeutungskern gelenkt, um eine Korrespondenz zwischen Bildzeichen, Sinn und Referenz herzustellen. Auf dieser „Rückseite“ werden die verborgenen (moralischen) Erzählungen im Modus des Schocks „sichtbar“: der Schock des Angesehenwerdens durch den verletzten Anderen, der den Betrachter in die Verantwortung ruft. Eine Soziologie des Bildes müsste sich ausgehend von diesen Befunden verstärkt den subjektiven und moralischen Bedeutungsgehalten des Gezeigten öffnen und ihr theoretisches Design immer auch in den Kontext vergangener und künftiger Leidenserfahrungen stellen.
Johannes Hätscher
Durkheims Rezeption des deutschen Universitätssystems. Eine
professionalisierungstheoretische Fallstudie zur Theorieformation und
Institutionalisierung der Sozialwissenschaften
Im Zentrum dieses Aufsatzes steht eine Sequenzanalyse der ersten Seiten eines Reiseberichtes, den der junge Émile Durkheim nach einem einsemestrigen Besuch an den Universitäten von Berlin, Leipzig und Marburg für ein Organ des französischen Bildungsministeriums verfasst hat. Zwei Thesen werden durch die Fallstudie gestützt: 1) Das Dokument verweist in verdichteter Form auf die historischen Handlungsprobleme, die sich beim Einzug der Erfahrungswissenschaften in staatliche Bildungsinstitutionen ergeben haben. 2) Eine derartige professionalisierungstheoretische wie wissenschaftssoziologische Analyse eignet sich sowohl dafür, Durkheims (frühen) institutionellen Werdegang als Wissenschaftler und Hochschullehrer erklären, als auch einen neuen Blick auf seine frühe Theorieentwicklung gewinnen zu können.
Schlagworte: Émile Durkheim, Wilhelm Wundt, Louis Liard, Professionalisierungstheorie, Wissenschaftssoziologie, Universitätsgeschichte, Fachhochschule, universalhistorischer Rationalisierungsprozess, Institutionalisierung der Soziologie
Rainer Diaz-Bone, Alois Hahn
Weinerfahrung, Distinktion und semantischer Raum
Der Beitrag theoretisiert aus kultursoziologischer, diskurstheoretischer und anthropologischer Perspektive das Weinerleben und dessen Semantisierung als soziale Konstruktion. Dabei werden Überlegungen und Befunde zum Einfluss der Weinbeschreibung sowie der Situativität des Weinkonsums auf das Weinerleben einbezogen. Argumentiert wird, dass das Weinerleben durch soziale Konstruktionsleistungen mitstrukturiert wird, dass die „materialen Eigenschaften“ des Weins unzureichend sind, um das Geschmackserleben zu organisieren und dass hier soziale Strukturierungen konstruierend hinzukommen müssen. Die hierbei stattfindende soziale Schematisierung und Vervollständigung findet praktisch im semantischen Raum sozialer Kollektive statt. Hierin wird das Weinerleben mit sozialem Sinn „ausgestattet“, die Rede über den Wein erhält ein distinktives Potential. Anhand von Befragungsdaten, die im Rahmen einer Weinprobe erhoben wurden, wird empirisch die Struktur des semantischen Raums eines Kollektivs, dessen Organisation und Distinktivität, analysiert, so wie sie sich in der Weinbeurteilung realisiert. Die Plots der eingesetzten Multiplen Korrespondenzanalyse wurden dafür einer hermeneutischen Analyse unterzogen.
Schlagworte: Distinktion, semantischer Raum, Diskurstheorie, soziale Konstruktion der Weinerfahrung, sozialer Sinn des Weinkonsums
Thomas Krumm
Die politische Vermarktung des „rot-grünen Projekts“. Symbolische
Politik einer rot-grünen Landesregierung unter Berücksichtigung der Marke
„Joschka Fischer“
Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind Mechanismen des politischen Vermarktung des ‚rot-grünen Projektes‘ in seiner Frühphase. Rot-grüne Politik scheint darin mit einer bestimmten Art von Selbststilisierung verbunden zu werden, bei der auf Instrumente symbolischer Politik und des politischen Marketings zurückgegriffen wird. Anhand eines Beispiels aus der ersten rot-grünen Landesregierung in den 1980er Jahren werden zentrale Aspekte des Selbstverständnisses ‚rot-grüner Politik‘ herausgearbeitet. Als Untersuchungsfall dient die Auseinandersetzung des sozialdemokratischen Hessischen Ministerpräsidenten Holger Börner mit seinem charismatischen grünen Umweltminister Joschka Fischer am Ende der ersten rot-grünen Koalition auf Länderebene (1987), bei dem unterschiedliche Autoritäts- und Politikverständnisse aufeinander trafen. Als Strukturkern kann die Ablehnung des personalistischen, imageorientierten Politikverständnisses Fischers sichtbar gemacht werden. Bei der Neuauflage dieser Koalition 1991 unter dem Ministerpräsidenten Hans Eichel lässt sich dann, insbesondere bei den Sozialdemokraten, ein stark verändertes Selbstverständnis, etwa durch Einbeziehung der Medien, rekonstruieren. Die rot-grüne Koalition wird nun als avantgardistische „Hessenkoalition“ vermarktet.
Schlagworte: Symbolische Politik, Politikmarketing, rot-grünes Projekt, Joschka Fischer, Holger Börner, Hans Eichel, Hessen, objektive Hermeneutik
Hansjörg
Sutter
Demokratische Partizipation im Jugendstrafvollzug. Erziehungswissenschaftliche
Rekonstruktion eines Modellversuchs
Die pädagogische Programmatik des ‚Just Community‘-Ansatzes zielt in entwicklungspsychologischer Perspektive auf die Förderung sozialkognitiver und soziomoralischer Lern- und Entwicklungsprozesse. Das von Lawrence Kohlberg begründete Konzept kann dabei als ein auch empirisch gut erforschter Ansatz der Demokratieerziehung angesehen werden. Ein zentrales Desiderat der U.S.-amerikanischen ‚Just Community‘-Forschung ist jedoch darin zu sehen, dass weder Modelle noch Methoden zur Verfügung stehen, um Widersprüche und Krisenphänomene einer interessierenden pädagogischen Praxis in ihren entwicklungspsychologischen wie sozialisationstheoretischen Implikationen beschreiben und verstehen zu können. – Der vorliegende Beitrag entwickelt im Bezugsrahmen einer hermeneutisch-rekonstruktiven Fallstudie empirisch fundierte Erklärungsmodelle. Die soziale Dynamik der Aushandlungsprozeduren demokratischer Selbstbestimmung und Interessenvertretung eröffnet Handlungs- und Erfahrungsmöglichkeiten, die soziomoralische Lern- und Entwicklungsprozesse ermöglichen. Im Vollzugsalltag erfordert diese Dynamik eine fortlaufende Ausbalancierung und Koordinierung widerstreitender Interessen, Normensysteme und Loyalitätsverpflichtungen. Abhängig von der Erfahrungsbiografie der Akteure eröffnet dies folgende Lern- und Entwicklungschancen: Die Ausdifferenzierung und Weiterentwicklung affektiver, kognitiver und sozialkognitiver Schemata, die Entwicklung kognitiv-struktureller Fähigkeiten zur Differenzierung und Koordinierung von Perspektiven und die Entwicklung kommunikativer Fähigkeiten, insbesondere der Fähigkeit zur situationsangemessenen Verbalisierung fraglicher Sachverhalte.
Schlagworte: Soziale Kognition, moralisches Urteil, moralische Entwicklung, Demokratie und Moralerziehung, Just Community, Fallverstehen, hermeneutische Rekonstruktion