Logo sozialer sinn





ISSN 1439-9326

Heft 2-2001

Deutsche Normalität nach 1989

Michael Schwab-Trapp
Der Kosovokrieg und die deutsche politische Kultur des Krieges

Der Beitrag untersucht den Wandel der politischen Kultur nach der Vereinigung Deutschlands in diskursanalytischer Perspektive anhand einiger Diskursbeiträge zur öffentlichen Diskussion über den Krieg im Kosovo. Die Rekonstruktion dieser Diskursbeiträge geht von der Hypothese aus, dass der Wandel der politischen Kultur des Krieges aufs Engste mit einem Wandel im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit verbunden ist und durch den Regierungswechsel begünstigt wird, der dem Kosovokrieg unmittelbar vorausgeht. Zur Überprüfung dieser Hypothese wird die politische Kultur des Krieges als ein historisch gewachsenes und in ständiger Veränderung begriffenes System von Bedeutungen konzeptualisiert, das in diskursiven Auseinandersetzungen zwischen politisch-kulturellen Eliten produziert und verändert wird.

Jeffrey K. Olick
What Does it Mean to Normalize the Past? Official Memory in German Politics since 1989
Was bedeutet: Normalisierung der Vergangenheit? Offizielle Erinnerung in der deutschen Politik seit 1989

In welcher Weise haben sich die offiziellen Bilder, die von der nationalsozialistischen Vergangenheit in der Bundesrepublik Deutschland gezeichnet wurden, nach 1989 verändert? Der Artikel (in der ersten Fassung 1998 veröffentlicht) unterscheidet zwei Strategien der „Normalisierung“: Relativierung und Ritualisierung. Er legt dar, dass die Normalisierung durch Relativierung, die in den 80er Jahren dominierte, in den 90er Jahren einer Normalisierung durch Ritualisierung gewichen ist. Diese Strategie erreicht viele Ziele, die ihre Vorgängerin verfolgte, ohne in der gleichen Weise provokant zu sein. In einem Nachwort, das für die Veröffentlichung in dieser Zeitschrift geschrieben wurde, werden die jüngsten Entwicklungen – einschließlich der Goldhagen- und Walser-Bubis-Debatte – untersucht und begründet, dass die ursprüngliche Einschätzung weiterhin Gültigkeit besitzt.

Jörn Lamla
Die Grünen am Ende der 90er Jahre. Zur Rekonstruktion der Transformationsdynamik nach ’89 am Beispiel grüner Sozialpolitik

Der Beitrag untersucht die Transformationsdynamik in der Politik nach ’89 am Beispiel der Grünen. Den Ausgangspunkt bildet eine Fallrekonstruktion zur grünen Willens-und Strategiebildung anhand von Textmaterialien aus einer 1996/97 geführten sozialpolitischen Debatte um das bündnisgrüne Modell für eine soziale Grundsicherung. In Anlehnung an die Methodologie der objektiven Hermeneutik werden zunächst Hypothesen über die Strukturen der fallspezifischen Handlungskonstellation und -problematik und sodann zur selektiven Logik der politisch-praktischen Bewältigung durch die grüne Partei generiert. Sie bestärken eine theoretische Erklärung, wonach Schwierigkeiten der Grünen, zwischen Macht- und Moralgesichtspunkten so zu balancieren, dass eine den gesellschaftlichen Gegenwartsbedingungen angemessene Erneuerung ihres Reformprojektes möglich wird, auf den gestiegenen kognitiven Kontingenzdruck im Rahmen der reflexiven Modernisierungsdynamik zurückgehen, an deren krisenhafter Zuspitzung der Umbruch von ’89 nicht unerheblich teil hat.

Allgemeiner Teil

Eberhard Nölke
Familiale Verlaufskurven und Prozesse des Scheiterns von Jugendlichen

Prozesse des Scheiterns und der Marginalisierung von Jugendlichen werden vor dem Hintergrund von generations-und milieuspezifischen Strukturen sowie Krisen und negativen Verläufen in der Familie beispielhaft analysiert. Mit Hilfe zentraler hermeneutischer Rekonstruktionsverfahren, wie der objektiven Hermeneutik und der Biografieanalyse, lassen sich das Scheitern von Jugendlichen in Institutionen sowie zentrale Konfliktdynamiken in ihrer familienbiografischen Bedeutung erschließen.

Methodenwerkstatt

Alfred Fleßner
Hören statt lesen. Zur Auswertung offener Interviews im Wege einfühlenden Nachvollziehens

Der Beitrag problematisiert aus dem Blickwinkel der geschichtswissenschaftlichen Quellenkritik einen zunächst nur praktisch anmutenden, tatsächlich aber erkenntnisstrukturierenden Verfahrensschritt bei der Auswertung offener Interviews: Sie werden gewöhnlich transkribiert und dann hauptsächlich auf der Basis des schriftlichen Textes analysiert. In der Bearbeitung wird so das vorliegende mündliche Gespräch durch ein anderes Kommunikationsmedium ersetzt. Im Hinblick auf die Auswertung offener Interviews im Wege einfühlenden Nachvollziehens wird ein Verfahren vorgestellt, bei dem offene Interviews ausschließlich anhand von Tonbandaufzeichnungen analysiert werden. Hören lenkt die Aufmerksamkeit auf den Kommunikationsprozess und die darin angelegte Gesprächsbotschaft. Sie wird schrittweise herausgearbeitet und nachvollziehbar gemacht und als Ergebnis der Interpretation durch Nachgespräche mit den Interviewpersonen validiert.

Zeitzeichen

Micha Brumlik
Unser Alabama. Jugendforschung zwischen Kolonialismusund Totalitarismustheorem

Unter der scientific community von Sozial- und Erziehungswissenschaftlern besteht über die einfache Frage nach dem Ausmaß jugendlichen Rechtsextremismus in Ostdeutschland äußerste Uneinigkeit. Zwei derzeit prominente Deutungsmuster – das Kolonialisierungstheorem sowie das Totalitarismustheorem – sehen zudem nicht nur die Ursachen, sondern auch die Bedeutung dieses Phänomens radikal entgegengesetzt. Als mögliche Ursache dieser innerwissenschaftlichen Differenz sind nationale Gefühle der Wissenschaftler selbst zu vermuten.

Karl Friedrich Bohler
Die Krise der Landwirtschaft nach dem BSE-Schock

Die Diskussion der BSE-Krise in der Landwirtschaft leidet in der Öffentlichkeit allzu oft unter einem Mangel an Sachkenntnis und einem Übermaß an Pauschalurteilen. Notwendig ist in den wichtigen Dimensionen von Agrarstruktur und Produktionsweise zum Beispiel eine Differenzierung von Massentierhaltung und artgerechter Haltung, in den Dimensionen von Agrarökonomie und Landwirtschaftspolitik eine differenzierte Betrachtung der Betriebsgrößen und -konzepte. Dringlicher als eine gesinnungsethische Verurteilung ist eine verantwortungsethische Aufklärung landwirtschaftlichen Handelns, deren Notwendigkeit sich aus konkreten Hinweisen auf ein Gefährdungspotenzial für die menschliche Gesundheit ergibt. Eine offene Frage ist, wie die ethische Bedenklichkeit die traditionelle Ernährungskultur beeinflusst und ob es so weit kommt wie im historischen Analogon des Verschwindens der Badekultur zu Beginn der Neuzeit.