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ISSN 1439-9326

Heft 1-2003

Verwandtschaft und Freundschaft

Peter Schuster, Rudolf Stichweh, Johannes Schmidt, Fritz Trillmich, Martine Guichard, Günther Schlee
Freundschaft und Verwandtschaft als Gegenstand interdisziplinärer Forschung. Einleitung zum Themenschwerpunkt

Der Beitrag gibt einen Überblick über den Forschungsstand zu den Themen Verwandtschaft und Freundschaft in den Disziplinen Soziologie, Mediävistik, Ethnologie, Anthropologie, Ethologie und Biologie und entfaltet Gemeinsamkeiten in den Forschungsfragestellungen, weshalb für eine interdisziplinäre Bearbeitung des Forschungsfeldes plädiert wird.

Gerhard Lubich
Das Wortfeld ‚Verwandtschaft‘ im Mittelalter. Kontextuell-semantisches Arbeiten im historischen Feld

Die auf die Verwandtschaftsterminologie fokussierte Analyse des im 10. Jahrhundert durch Widukind von Corvey latinisierten und verschriftlichten Iringliedes, einer Heldensage, ergibt auffällige Unterschiede zu einigen der Attribute, mit denen Verwandtschaft gemeinhin charakterisiert wird, denn sie erscheint dort etwa als vergänglich oder verhandelbar. Unter Rekurs auf einfache sprachwissenschaftliche Überlegungen wird daraufhin diese als semantisch begründet aufgefasste Differenz thematisiert, generalisiert und ein Vorgehen zur Aufarbeitung der mittellateinischen Verwandtschaftsterminologie vorgeschlagen. Dieser von einer semantisch-kontextuellen Verfahrensweise ausgehende Ansatz wird dann von der bisherigen mediävistischen Verwandtschaftsforschung abgegrenzt, auf seine Praktikabilität aufgrund der neuartigen Editionen (elektronische Volltexte, Datenbanken) eines Großteils der als relevant eingeordneten früh- und hochmittelalterlichen Texte hingewiesen und Horizonte künftiger Fragestellungen aufgezeigt.

Peter M. Kappeler
Verwandtschaftsmuster und die Soziobiologie nichtmenschlicher Primaten

Verwandtenselektion liefert eine evolutionsbiologische Theorie zur Analyse der vielfältigen Einflüsse genetischer Ähnlichkeit auf soziale Beziehungssysteme im gesamten Tierreich. Das Ziel dieser Übersicht besteht darin, kausale Zusammenhänge zwischen Verwandtschaftsstrukturen und Sozialsystemen beispielhaft an nicht-menschlichen Primaten aufzuzeigen; nicht zuletzt deshalb, um zu argumentieren, dass die existierenden Modelle der Verwandtenselektion und der Sozioökologie auch einen deduktiven Rahmen zur Analyse der Soziobiologie des Menschen liefern. Durch eine zusammenfassende Übersicht über die Diversität und Determinanten der Sozialsysteme der Primaten ergeben sich Vorhersagen darüber, wo und warum Verwandte zusammen leben sollten. Die Analyse der publizierten genetischen Untersuchungen von Populationsstrukturen zeigt aber in mehreren Fällen keine Übereinstimmung mit den Erwartungen. Das vorgestellte sozioökologische Modell, das die Beziehungen zwischen ökologischen, sozialen und genetischen Faktoren und unterschiedlichen Sozialstrukturen erklärt, hat daher den Einfluss des Verwandtschaftsgrades möglicherweise überbewertet.

John Ziker
Verwandtschaft und Freundschaft in der Autonomen Region Taimyr, Nordrussland

Die bisherige ethnologische Forschung bietet Beschreibungen vielfältiger Strategien, der sich Menschen in postsozialistischen Gesellschaften bedienen um aus der Ungewissheit der Übergangssituation das Beste für sich herauszuholen. In der Taimyr-Region bieten Verwandtschaft und Freundschaft die soziale Sicherheit und die moralische Unterstützung, die so wichtig sind für viele indigene Haushalte in abgelegenen Siedlungen. Die hier vorgelegte Studie über Verwandtschaft und Freundschaft auf Taimyr basiert auf Selbstdeutungen des Teilens, die sowohl mittels Fragebogen als auch durch teilnehmende Beobachtung in Situationen des Teilens erhoben wurden. Diese Formen der Dokumentation zeigen die Lebensfähigkeit der auf das Teilen von Ressourcen angewiesenen Gemeinde. In einigen Fällen verläuft das Teilen mit anderen Haushalten höchst asymmetrisch und gründet sich auf Entwicklungszyklen innerhalb der Familie oder – seltener – auf Beziehungen zwischen nicht miteinander verwandten Personen. Es wird beschrieben, wie verschiedene Haushalte sich gegenseitig bewirten und daraus auf die Differenzierung zwischen Verwandtschaft und Freundschaft geschlossen. Die Ergebnisse dieser Studie unter Dolganen und Nganasanen legen nahe, dass eine kooperative Haltung für freundschaftliche Beziehungen bedeutsamer ist als für verwandtschaftliche.

Carla Risseeuw
Über Familie, Freundschaft und die Notwendigkeit von ‚kulturellem Aufwand‘. Veränderungen in den Verlaufskurven von Familien- und Freundschaftsbeziehungen in den Niederlanden

Dieser Aufsatz basiert auf Interviews, die in vorwiegend städtischen Regionen der Niederlande zum Thema der Veränderungen in den Verlaufskurven von Familien- und Freundschaftsbeziehungen im Leben der Befragten geführt wurden. Die Untersuchung ist Teil einer größeren internationalen Studie von Anthropologen und einem Wirtschaftswissenschaftler die sich mit Veränderungen im öffentlichen und privaten Bereich in den Niederlanden befasst. Das Forscherteam setzte sich aus indischen und niederländischen Mitgliedern zusammen. Es konzentrierte sich auf den Rückzug des Wohlfahrtsstaates und die (möglichen) Folgen sowohl für private wie öffentliche Unterstützungsnetzwerke. Dieser Aufsatz behandelt die Themen Familie und Freundschaft, und wie sie von den Befragten erörtert wurden. Werden angesichts der sinkenden durchschnittlichen Zahl der Familienmitglieder in Zukunft Freunde einen größeren Raum im sozialen Leben der Individuen einnehmen? Obwohl die meisten der Befragten – wie auch R. Paine in seinem bekannten Aufsatz über Freundschaft – dieser Ansicht waren, zeigte sich, dass die Umsetzung solcher Wandlungsprozesse sich zuweilen als größere Herausforderung erweist als ursprünglich angenommen.

Monika Keller und Michaela Gummerum
Freundschaft und Verwandtschaft – Beziehungsvorstellungen im Entwicklungsverlauf in kulturvergleichender Perspektive

Die Entwicklung sozio-moralischer Kognitionen von Kindern und Jugendlichen wurde in einem entwicklungspsychologischen und kulturvergleichenden Projekt untersucht. 7-, 9-, 12- und 15-Jährige aus Island und China wurden über ihre allgemeinen Vorstellungen zu Freundschaft und Familienbeziehung sowie über zwei moralische Dilemmata in Freundschaft und Familie befragt. Dabei ging es um Handlungsentscheidungen, Begründung von Handlungsoptionen und moralische Bewertung sowie die Folgen von Handlungen für Andere und Selbst. Die Ergebnisse unserer Untersuchung zeigen sowohl übergreifende entwicklungsspezifische Veränderungen in den naiven Handlungstheorien über Personen, Beziehungen und moralischen Regeln, als auch kulturspezifische Unterschiede, die sich im Verlauf der Entwicklung ändern können.

Allan Silver
Freundschaft und Aufrichtigkeit

Während „Aufrichtigkeit“ in solchen Gesellschaften, in denen soziale Positionen mit hochgradig kodifizierten Verpflichtungen verknüpft sind, eine objektive Bedeutung hat, wird damit in modernen Gesellschaften etwas Subjektives bezeichnet, eine innere Haltung. Die Bedeutung freiwilliger Tätigkeit, die ein unerlässliches Kennzeichen von Freundschaft darstellt, ist mit dem Verschwinden institutionalisierter Freundschaft ebenfalls einem historischen Wandlungsprozess unterworfen. Während eigennützige Motive dem modernen Ideal „reiner“ Freundschaft unverträglich sind, waren Gewinn und Solidarität gänzlich vereinbar mit historisch früheren Formen aufrichtiger Freundschaft. Begriffe, die Aufrichtigkeit und Freundschaft beschreiben, erfordern eine historische Spezifizierung.

Allgemeiner Teil

Kerstin Rathgeb
Swing-Jugend. Konstruktionen eines Phänomens

Während des Nationalsozialismus wurde absolute Unterordnung und Anpassung an die Parteiideologie der Nationalsozialisten gefordert. Nonkonformität, wie sie die Swing-Jugend praktizierte, wurde als staatsfeindliche Handlungsweise eingestuft und entsprechend geahndet. Dies hat bei den damaligen Swing-Jugendlichen jedoch keineswegs zwingend zu einer autobiografischen Konstruktion von Verfolgung geführt. Die Irritationen, die aus der Gegenüberstellung von absolutem herrschaftlichem Handeln und einer biografischen Erzählung entstehen, machen deutlich, dass Historie immer wieder konstruiert wird und werden muss. Dieser Prozess ist kein beliebiger, sondern immer interaktiv und situationsabhängig.

Methodenwerkstatt

Kai-Olaf Maiwald
Stellen Interviews eine geeignete Datenbasis für die Analyse beruflicher Praxis dar? Methodologische Überlegungen und eine exemplarische Analyse aus dem Bereich der Familienmediation

Interviews werden üblicherweise als ungeeignet für die Analyse beruflicher Praxis angesehen, da sie vor allem die Perspektive des Handelnden zum Ausdruck bringen. Gleichwohl ist es unter zwei Bedingungen möglich, begründete Aussagen über die Praxis selbst zu treffen. Zum einen kann das berufliche Handeln gehaltvoll als Gegenstand der Schilderungen des Interviewees untersucht werden, wenn die Interviews offen geführt werden und entsprechend reichhaltige Schilderungen enthalten, die dann sequenzanalytisch interpretiert werden. Zum anderen können diese Schilderungen in professionellen Kontexten darüber hinaus als unmittelbarer Ausdruck professionellen Handelns analysiert werden. In diesen Berufen hat die Selbst-Reflexion auf die eigene Fallbearbeitung nicht den Status einer ephemeren Deutung, sondern ist im Gegenteil integraler Teil des professionelle Handelns. Die methodologischen Zusammenhänge werden anhand einer Sequenzanalyse eines Interviewausschnittes mit einem Familienmediator verdeutlicht.