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ISSN 1439-9326

Heft 3-2003

Aufstiege und Abstiege

Gerd Nollmann
Die Deutung beruflicher Karrieremobilität. High-Potentials, Karriereturniere und die Plausibilisierung von Unterlegenheit

Karrieremobilität stellt für die Analyse sozialer Deutungen einen bisher vernachlässigten, gleichwohl äußerst reizvollen, materialen Gegenstand dar. Um Ansatzpunkte für seine Entwicklung zu zeigen, diskutiert der Aufsatz die Studie Career Mobility in a Corporate Hierarchy, die James E. Rosenbaum vorgelegt hat. Sie geht über die übliche Forschung hinaus, indem sie Karrieren als Elemente von unternehmensinternen Turnieren begreift. Rosenbaum stellt die mit Karriereentscheidungen verbundenen Signale als objektive Deutungen ungleicher Mobilität vor, die Karriereturniere konstituieren. Rosenbaums Modell konzentriert sich allerdings nur auf die soziale Konstruktion des High-Potentials, der in Turnieren schnell aufsteigt. Es muss deshalb um Deutungen beruflicher Unterlegenheit ergänzt werden, die sich aus internen und externen Rekrutierungen, informellen und formalen Situationsauffassungen, Vergleichsobjektkonsens und Vorsichtshaltung ableiten. Nachdem auf diese Weise typische Deutungen beruflicher Unterlegenheit herausgearbeitet wurden, schließt der Aufsatz mit einigen Folgerungen zur Sammlung von Daten zur Weiterentwicklung der Mobilitätsforschung.

Martin Schmeiser
Verlaufsformen des intergenerationellen sozialen Abstiegs in Akademikerfamilien: Eine Typologie

Intergenerationeller sozialer Abstieg war bislang höchstens ein Thema der statistisch orientierten Mobilitätsforschung. Obwohl intergenerationelle Abstiege häufig vorkommen, ist nahezu unerforscht, wie Abstiege erfahren werden, welche Verlaufsformen überhaupt existieren und welche Konsequenzen ein Abstieg zeitigt. Unter Heranziehung von klassischen Grenzfällen aus einem in der Deutschschweiz durchgeführten qualitativen Forschungsprojekt werden drei Verlaufsformen des intergenerationellen sozialen Abstiegs typologisch unterschieden: Der möglichst lange hinausgezögerte, abrupt erfolgende Abstieg; das möglichst frühzeitige Ausscheren aus der akademischen Normalbiografie in Gestalt des Ausstiegs und das lebensgeschichtliche Hin- und Herpendeln zwischen Abstiegs- und Herkunftsmilieu der marginalen Persönlichkeit. Die Verlaufsmuster belegen eindrücklich die Hypothek milieutypischer elterlicher Statuserwartungen. Damit ist selbst im Falle eines Abstiegs Zurückhaltung gegenüber der zeitdiagnostischen Individualisierungsthese angebracht.

Elisabeth Seyfarth-Konau
„Soziale Paten“ in der Deutung professioneller Karrieren. Zwei Fallstudien zu Juristinnen

Der Beitrag untersucht die Rolle „sozialer Paten“ für weibliche professionelle Karrieren, insbesondere für die „subjektive“ Darstellung und biografische Integration objektiv erfolgreicher Karrieren, die nach sozialstatistischen Merkmalen unwahrscheinlich waren. Am Beispiel der Werdegänge zweier Anwältinnen unterschiedlicher Geburtskohorten und aus unterschiedlichen sozialen Milieus wird analysiert, wie folgenreiche Weichenstellungen ihrer Karrieren, das heißt Entscheidungen, Erfolge und „Leistungen“ von den Anwältinnen berichtet und interpretiert werden. Als dominantes Darstellungsmuster zeigt sich ein „Rekurs auf soziale Paten“. Männliche Familienangehörige sind in beiden Fällen zentrale Patenfiguren. Sie und die übrigen Paten sichern im einen Fall Nachhaltigkeit und Konsequenz des beruflichen Werdegangs, im andern fungieren sie eher als „Schrittmacher“. Diese Varianten lassen einen Zusammenhang mit der Generationszugehörigkeit und dem Herkunftsmilieu der Anwältinnen erkennen. Abschließend werden Divergenzen und Konvergenzen mit anderen Konzepten sozialer Patenschaft, dem Konzept des Mentors, sowie „weiblichen Erzählmustern“ diskutiert.

Ehre

Roland Girtler
Die Buntheit der Ehre – Dirnen, Bauern, Wildschütze und Pfarrerköchinnen

Dieser Aufsatz beschäftigt sich mit dem Begriff der Ehre. Ehrenhaftigkeit, so die Grundthese, ist nicht auf bestimmte soziale Schichten und Gruppen beschränkt. Ehre ist eine Grundkategorie sozialen Handelns und findet sich deshalb auch jenseits „offizieller Kultur“ in gesellschaftlichen Randbereichen und Nischen. Diese These wird an einer mikrologischen Betrachtung von 4 Handlungssphären empirisch entfaltet: Dirnen, „echte“ Bauern (Subsistenzwirtschaft), Wildschütze und Pfarrerköchinnen: sie alle folgen einem je eigenen Ehrbegriff. Ehre, so lässt sich empirisch aufweisen, ist eine sehr vielfältige und facettenreiche Erscheinung.

Erhard Stölting
Scheinbarer Archaismus und scheinbare Authentizität. Der Mechanismus der Ehre im modernen Sozialleben

Modernität ist durch bürokratische Kontrollierbarkeit, Transparenz, Sachlichkeit, ein staatliches Justizsystem und eine universalistische Moral charakterisiert. „Ehre“ erscheint daher zunächst als vormoderner Begriff. In vormodernen Zeiten setzen explizite oder implizite Vertragsbeziehungen persönliches Vertrauen voraus. Wie immer sich dieses Vertrauen bildet, es wird den Beteiligten als Eigenschaft zugeschrieben: als „Ehre“. Auch in modernen Gesellschaften sind Ehrbeziehungen in all jenen Bereichen bestimmend, in die die modernen rechtlichen und bürokratischen Strukturen nicht hinreichen – etwa informelle Beziehungen und illegale Milieus. Ehre verlangt dann auch den Schutz des jeweiligen Milieus oder Gruppen gegenüber der umgreifenden Gesellschaft. Sie bezieht sich entsprechend immer auf eine partikulare Gruppe, die sich gegenüber dem Rest der Gesellschaft als Elite versteht. Wer diese Gruppe verrät, verliert seine Ehre. Die Gruppenehre kann von den Gruppenmitgliedern auch den Einsatz von Gewalt verlangen. Der Verlust der Ehre hat immer den Ausschluss aus der sozialen Gruppe zur Folge, wobei die Formen des Ausschlusses rationale Gewaltanwendung einschließen können.

Allgemeiner Teil

Andreas Wernet
Die Auflösungsgemeinschaft „Familie“ und die Grabsteininschrift: Eine exemplarische Fallrekonstruktion

Dieser Beitrag verfolgt ein theoretisches, ein empirisches und ein methodologisches Anliegen: (1) Familientheoretisch geht es darum, die Familie begrifflich als Auflösungsgemeinschaft zu fassen. Die Auflösungsbewegung wird im Zentrum familialer Interaktion lokalisiert, statt sie auf die Phasen der familialen Transformation zu beschränken. (2) Die empirische Analyse versucht diese Sichtweise an einem ungewöhnlichen Datenmaterial zu plausibilisieren: Durch eine objektiv-hermeneutische Analyse einer Grabsteininschrift wird das Auflösungsproblem empirisch lokalisiert und seine fallspezifische Ausprägung rekonstruiert. (3) Entlang dem objektiv-hermeneutischen Postulat der Textförmigkeit sozialer Wirklichkeit wird dieses Vorgehen eingerückt in das methodologische Anliegen, den Standpunkt einer empirisch-strukturanalytischen Wirklichkeitserschließung zu verdeutlichen.

Methodenwerkstatt

Mechthild Bereswill
Die Subjektivität von Forscherinnen und Forschern als methodologische Herausforderung. Ein Vergleich zwischen interaktionstheoretischen und psychoanalytischen Zugängen

In der qualitativen Sozialforschung wird davon ausgegangen, dass die Subjektivität von Forschenden nicht als Störung, sondern als Erkenntnisquelle im Verstehensprozess zu reflektieren ist. Methodologisch stellt sich die Herausforderung, Subjektivität im Kontext verschiedener Forschungstraditionen zu konzipieren und systematisch zu reflektieren. Diese Herausforderung wird diskutiert, indem zwei verschiedene Methodologien im Hinblick auf ihre unterschiedlichen Auffassungen von Subjektivität im Forschungsprozess miteinander verglichen werden. Als Beispiel dient ein kurzer Interviewdialog, in dem die Subjektivität einer Forscherin evident wird. Dieser wird unter einer konstruktions-und interaktionstheoretischen sowie unter einer psychoanalytischen Perspektive analysiert. Auf der Ebene der Interpretationslogiken und Ergebnisse zeigen sich verschiedene Gemeinsamkeiten. Im Hinblick auf die Erfassung und Reflexion von Subjektivität im Forschungsprozess werden grundlegende Differenzen sichtbar: zwischen Intersubjektivität und Intrasubjektivität sowie zwischen Selbstreflexion und Introspektion.

Zeitzeichen

Christian Giordano
Die Mafia als historisches Vermächtnis. Für eine entzauberte Betrachtung organisierter Kriminalitätsformen

Dieser Artikel rekonstruiert zunächst die verschiedenen Deutungen mafioser Phänomene, die von Experten unterschiedlicher sozialwissenschaftlicher Disziplinen vorgeschlagen wurden. In der Folge wird die These beleuchtet, dass die Mafia in Sizilien und in anderen Teilen der Welt (z.B. in Osteuropa) kein archaisches soziales Phänomen darstellt, das am Aussterben ist. Es handelt sich dagegen um eine Form der organisierten Kriminalität, die sich mit hochmodernen Strukturen ausgestattet hat. Ihre Persistenz in spezifischen Gesellschaften ist auf die Tatsache zurückzuführen, dass die Bürger aufgrund negativer vergangener Erfahrungen, keinen Anlass sehen, in der Gegenwart ein Vertrauensverhältnis zum Staat und ganz allgemein zur öffentlichen Sphäre zu entwickeln.